Die Lehren aus dem Amoklauf in Erfurt

Das Training der Zusammenarbeit von Polizei, Feuerwehr und Notfallsanitäterinnen und -sanitätern.
Die Lehren aus dem Amoklauf in Erfurt
Dramatische Einsatzszenarien – wie ein schwerer Autounfall mit Explosion – wurden auf dem Gelände des LAFP in Schloß Holte-Stukenbrock nachgespielt. Das Training der Zusammenarbeit von Polizei, Feuerwehr und Notfallsanitäterinnen und -sanitätern hat gut funktioniert.
Streife-Redaktion

Amoklauf in einer Studentenunterkunft. Eine Extremsituation für Polizei und Rettungskräfte. Für alle Sicherheitskräfte bedeutet das höchste Alarmbereitschaft. Nach wenigen Minuten wimmelt es von Streifenwagen am Tatort. Als die Einsatzkräfte vordringen, liegen überall stöhnende und blutende Menschen, die so schnell wie möglich in Sicherheit gebracht werden müssen. Zugleich fokussiert sich das vordringende Team darauf, die Angreifer auszuschalten. Das Gelände ist inzwischen hermetisch abgeriegelt. Wegen der akuten Lage dürfen nur noch einige Rettungs- und Notarztwagen hinein, um den Transport der Verletzten in die Krankenhäuser vorzubereiten.

Ein Horrorszenario für Polizei, Feuerwehr und Sanitätskräfte. An diesem Tag wird der Ernstfall aber nur geprobt. Es ist der jährliche Simulationstag auf dem Gelände des Landesamts für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten (LAFP) in Schloß Holte-Stukenbrock.

 

"Der Simulationstag ist für alle ein großes Event. Ich finde es wichtig und gut, dass auch der Wach- und Wechseldienst so umfangreich einbezogen worden ist."

 
Dr. Sandra Müller-Steinhauer, Polizeipräsidentin Bielefeld

 

Die Reaktion auf einen Amoklauf zu inszenieren, ist aufwendig. Diesmal dauert die Übung mehrere Stunden. Zweimal – vormittags und nachmittags – wird der große Katastrophenfall trainiert. 28 Darstellerinnen und Darsteller, die vorher von der DLRG für ihre Rollen mit künstlichem Blut präpariert wurden, stehen für die „Simulation 6“ zur Verfügung. Das Szenario ist frappierend realistisch und macht deutlich, was auf Polizei und Rettungsdienste zukommen kann.

Die Spezialeinheiten können zwei Täter stellen. Die Stich- und Schussverletzungen der Opfer müssen erstversorgt werden.

So weit das Lagebild. Es stellen sich für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer viele Fragen: Wie schaffe ich es in der Hektik, die Gefährdeten in Sicherheit zu bringen? Wo kann ich eine geschützte Betreuungsstelle einrichten? Wer ist traumatisiert? Finde ich Zeugen? Mit welchen Waffen sind die Täter ausgerüstet? Gibt es noch weitere Schützen?

„Wir wollten Zeit haben, um uns ganz auf unsere Abläufe zu konzentrieren“, sagt Kriminaldirektor Martin Huber, der Leiter der Spezialeinheiten beim Polizeipräsidium Bielefeld. Heikel sei die Priorisierung von Verletzten. Da stellten sich stets fundamentale moralisch-ethische Fragen.

„Grundsätzlich gibt es eine Pflicht zum Handeln, um Menschenleben zu retten“, hebt der 46 Jahre alte leitende Beamte hervor. „Warten ist nicht hinnehmbar. Das ist die Lehre aus dem Amoklauf von Erfurt 2002.“

Natürlich müsse man geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Einsatzkräfte nicht zur Zielscheibe zu machen, so Kriminaldirektor Huber. Wichtig sei die entsprechende Schutzausstattung für Kräfte des Wachdienstes. Umsichtiges Vorgehen minimiere Risiken und müsse immer wieder trainiert werden.

Je sechsmal werden an diesem Übungstag im Mai sechs Szenarien geprobt. Hier spielt die Kooperation mit Feuerwehr und Rettungsdiensten eine zentrale Rolle. Ein reibungsloses Zusammenwirken sämtlicher Akteure ist die Voraussetzung für ein Gelingen geplanter Rettungsmaßnahmen. Ein schwerer Zusammenstoß zweier Autos, ein Brand, ein Kutschenunfall, eine Messerattacke und ein umgestürzter Lastwagencontainer stellen sie vor komplexe Aufgaben.

Seit 2018 findet der Simulationstag beim LAFP in Schloß Holte-Stukenbrock statt. In dieser Größenordnung gebe es das in Deutschland wohl sonst nirgendwo, meint Stefan Laker, der die Veranstaltung vorbereitet hat. Der Lernfeldkoordinator ist Dozent am Studieninstitut für kommunale Verwaltung Westfalen-Lippe (StiWL), das mit der Organisation betraut ist.

Das StiWL qualifiziert unter anderem Fachkräfte für Rettungsdienst und Feuerwehr. „Für unsere Schülerinnen und Schüler in der dreijährigen Ausbildung zur Notfallsanitäterin bzw. zum Notfallsanitäter ist das Event eine Gelegenheit, sich auf extreme Lagen vorzubereiten“, meint Laker. „Alle lernen dabei, wie sich Kommunikation und Teamwork weiter verbessern lassen.“

Diesmal machen rund 700 Personen mit – so viele wie noch nie. Darunter sind 300 Schülerinnen und Schüler des StiWL, Dutzende weitere Rettungskräfte, etwa 80 Feuerwehrleute, etliche Akteure verschiedener Hilfsorganisationen, Beobachter und Auswerter mehrerer Hochschulen und an die hundert Polizistinnen und Polizisten des Wach- und Wechseldienstes fast aller Kreispolizeibehörden aus Ostwestfalen-Lippe und des Kreises Soest sowie der Spezialeinheiten des Bielefelder Polizeipräsidiums. Auch die Leitstellen sind eingebunden. Der Fahrzeugpark mit mehr als 50 Rettungsfahrzeugen, sechs Löschzügen der Feuerwehr sowie Dutzenden Polizeiwagen kann sich sehen lassen. Auch Drohnen sind im Einsatz. Ein imposantes Bild.

Die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Stellen hat sich bewährt. Traditionell eng ist die Verbindung zwischen dem PP Bielefeld und dem StiWL. Die Bielefelder Polizeipräsidentin Dr. Sandra Müller-Steinhauer und der Bielefelder Oberbürgermeister Pit Clausen für das Studieninstitut haben am Simulationstag eine Vereinbarung unterzeichnet, um die Kooperation noch zu vertiefen. Aus- und Fortbildung sollen gezielt gemeinsam weiterentwickelt werden.

Erst wenige Tage zuvor hat sich die Explosion von Ratingen mit vielen schwerverletzten Polizei- und Rettungskräften ereignet. Für Dr. Müller-Steinhauer macht dieser Einsatz einmal mehr deutlich, wie notwendig ein reibungsloses und belastbares Miteinander gerade in Krisensituationen ist. „Wir müssen uns aufeinander verlassen können“, meint die erfahrene Juristin. „Genau das lernt man hier.“ Der Bielefelder Oberbürgermeister konstatiert, dass ein solcher Aktionstag äußerst eindrücklich sei. „Solche Erfahrungen setzen sich in der Regel leichter im Kopf fest als Unterrichtsstunden im Seminarraum.“

Nächster Einsatz, anderes Kaliber: Nachhaltiger sind die Erfahrungen zum Beispiel bei einem Junggesellenabschied, der im blutigen Chaos endet. Ein Pferd, das eine Partykutsche gezogen hat, ist durchgegangen. Einer der neun alkoholisierten Männer war auf das Tier gestiegen und hatte einen Böller gezündet. Die Kutsche ist in einem Waldstück umgestürzt. Als die Polizeistreife eintrifft, schallt ihr lautes Ballermann-Gedudel entgegen.

Zunächst verschaffen sich die Polizistinnen und Polizisten ein Bild, stellen die Musik ab und versuchen, die Partygäste, deren Tour durch den Wald so dramatisch geendet ist, zu beruhigen. Die mittlerweile hinzugestoßenen Rettungskräfte, Auszubildende des StiWL, verteilen „Patientenanhängetaschen“, um die jeweilige Schwere der Verletzung anzuzeigen.

Unter einem panisch wiehernden Pferd – ein Dummy aus echtem Holz – liegt eine Person mit einer Beckenfraktur. Der Mann ruft immer wieder verzweifelt: „Schießt endlich den Gaul tot.“ Ein anderer ist mit einem Oberschenkelbruch unter dem umgekippten Kutschwagen eingeklemmt. Ein dritter Passagier ist in einen Elektrozaun gestürzt und kauert nun im Gras. Ein Pfahl hat sich durch seine Schulter gebohrt. Auch die anderen Trunkenbolde sind in hohem Bogen aus der stürzenden Kusche geflogen und jammern jetzt schmerzgeplagt auf dem Waldboden – die Bierflaschen in Reichweite. Alle warten auf Rettung.

Das Drehbuch sieht nun eine Eskalation vor. Der Zustand einer Person verschlechtert sich plötzlich. Um den Kreislauf zu stabilisieren, heben ein Polizist und eine Notfallsanitäterin die Beine an. Ein Typ, als einziger unverletzt, macht in einem rosa Osterhasenoutfit weiterhin Späßchen. Er hat die Situation nicht gecheckt, behindert vielmehr die Einsatzkräfte. Ein anderer, offenbar ebenfalls sehr angetrunken, blutet aus einer Wunde an der Stirn und randaliert lautstark. Der Randalierer wird fixiert. Auch der Kostümierte hört nicht auf, bis ihn Polizeihauptkommissar Reinhard Wuttke, der polizeiliche Einsatzleiter, ruhigstellt.

Interessiert notiert eine Studentin am Rande des Geschehens jeden Schritt der Übung. Lara Richter studiert im dritten Semester an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg. Ihr Professor hat ein elektronisches Trackingsystem entwickelt, um Wartezeiten und massenhafte Patientenströme rückverfolgen zu können. Damit lässt sich vielleicht schon bald genauer analysieren, wie und in welcher Zeit ein großes Aufkommen von Verletzten kanalisiert und versorgt werden kann.

Eugen Latka, Leiter des Fachbereichs Medizin und Rettungswesens am StiWL, betrachtet die Szenerie gleichfalls intensiv und erläutert, was gerade vor sich geht. „Nicht wer am lautesten schreit, kommt zuerst dran“, bemerkt er. „Die Priorisierung der Patienten muss nach einer Ersteinschätzung schließlich der leitende Notarzt vornehmen. Die Feuerwehr ist für die technische Sicherung zuständig.“ Das Pferd stelle beispielsweise ein Problem dar. Es könne nicht einfach unbedacht weggezogen werden. „Wenn es sich aufbäumt, würde das den Mann darunter nur noch stärker gefährden.“

Dann rückt die Berufsfeuerwehr aus Hamm an. Sie weiß, wie es geht. „Wir drehen das Pferd mit Feuerwehrschläuchen und befreien auf diese Weise den Verletzten“, kündigt Brandoberinspektor Thorsten Blum an. „Die Kutsche heben wir mit einem Umbettungsgerät hoch, sodass wir die zweite Person vorsichtig herausbefördern und für den Abtransport vorbereiten können.“ So geschieht es. Die vorschriftsmäßige Ablage in einem mit medizinischen Geräten bestückten „Bereitstellungsraum“ stellt der Organisatorische Leiter Rettungsdienst sicher. Jetzt kann man den Verletzten bis zur Abfahrt bestmöglich medizinisch versorgen.

Spektakulär ist auch der nachgestellte Verkehrsunfall – im Skript wird er unter Simulation 1 geführt: Bei einem illegalen Autorennen sind zwei Fahrzeuge aneinandergeprallt. Der eine Pkw mit fünf Insassen wurde in ein Gebüsch geschleudert. Die beiden vorn sitzenden Personen stecken fest und können nicht ohne die Feuerwehr aus dem Wagen gelangen. Zwei weitere sitzen verletzt auf der Rückbank. Einer läuft aufgeregt um das Fahrzeug herum. Der zweite Pkw, in dem vier Menschen gesessen haben, brennt. Drei Insassen konnten sich hinausretten. Den bewusstlosen Fahrer haben sie etwas abseits auf die Straße gezogen, als das Auto Feuer fing.

Die Polizei trifft vor dem ersten Rettungswagen ein und leistet gleich Erste Hilfe. Mehrere Polizistinnen und Polizisten versuchen, den Bewusstlosen – in der Szene ein Dummy – zu reanimieren. Die hinzugekommenen Notfallsanitäter kümmern sich währenddessen um die anderen Patienten. Eines der Unfallopfer ruft wütend: „Macht doch endlich! Mein Freund stirbt.“ Zunächst aber tut sich nichts. Jens Wolff, Koordinator Fort- und Weiterbildung sowie Vertreter der Fachbereichsleitung des StiWL, erklärt hinterher warum. „Die Wahrscheinlichkeit, eine leblose Person nach einem solchen Unfall wiederzubeleben, liegt nach wissenschaftlichen Prognosen bei nur ca. 5 Prozent. Es ist für die medizinischen Rettungsdienste notwendig, erst dort zu unterstützen, wo es am meisten Sinn macht.“

Plötzlich explodiert der brennende Wagen, es bilden sich dichte schwarze Rauchwolken. Sehr schnell ist die Freiwillige Feuerwehr aus Lemgo zur Stelle und löscht den Brand. Mit hydraulischem Spreizer und Schere öffnet sie außerdem den zweiten Wagen und befreit die beiden Verletzten auf den Vordersitzen.

Philipp Heidrich, der Einsatzleiter der Freiwilligen Feuerwehr – im Privatberuf Maschinenbauingenieur –, ist nachher mit dem Einsatz zufrieden: „Insgesamt hat es zwar etwas gedauert, bis wir genug Kräfte beisammenhatten, um die Individualversorgung zu gewährleisten. Aber so etwas passiert bei großen Lagen. Bis dahin haben alle, einschließlich des leitenden Notarztes, einen kühlen Kopf bewahrt.“

„Auch bei dem Wohnungsbrand, der Simulation 2, waren wir dabei“, ergänzt der 41-jährige Feuerwehrmann. „Dort hat es gut geklappt. Wir haben den Patienten in dem qualmenden Haus sofort RespiHoods, also Rettungshauben mit konstanter Luftzufuhr, aufgesetzt, damit sie sich nicht durch den Rauch vergiften.“

Die Abläufe sämtlicher Szenarien werden im Nachgang noch genau analysiert, beschreibt Eugen Latka vom StiWL den Fortgang.

 

"Erfreulich ist schon mal, dass sich niemand verletzt hat und auch die Mimen wieder einmal ihr Bestes gegeben haben."

 
Eugen Latka, Leiter des Fachbereichs Medizin und Rettungswesens am StiWL

 

Natürlich erkenne man auch Fehler. Aber daraus lerne man. Und dazu sei der Simulationstag schließlich da. Die ganze Übung sei ja keine benotete Leistungsüberprüfung von Einzelnen. „Wir wollen vor allem unsere Zusammenarbeit verbessern.“ Gleichwohl werde später noch über Schwachpunkte diskutiert. Die Auszubildenden hätten bei ihrer Kategorisierung der Patienten beispielsweise dazu geneigt, zu viele Menschen als schwerverletzt einzustufen. „So geht man zwar auf Nummer sicher. Das kann aber auch Probleme bereiten, wenn dadurch Kapazitäten überlastet werden“, gibt der Fachbereichsleiter des StiWL zu bedenken. Alles in allem seien jedoch in kurzer Zeit die Ketten aufgebaut worden, die es brauche, um Leben zu retten.

„Die Kommunikation während des Simulationstages verlief höchst erfreulich“, resümiert Polizeihauptkommissar Christian Lüttig von der Direktion Gefahrenabwehr – Einsatz/Ständiger Stab am PP Bielefeld. Man werde sich in den nächsten Wochen alles noch einmal anschauen und detailliert vertiefen. „Ziel ist und bleibt es, die unterschiedlichen Kompetenzen von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten an den Schnittstellen optimal zu bündeln.

Das Training der Zusammenarbeit von Polizei, Feuerwehr und Notfallsanitäterinnen und -sanitätern.
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Das Training der Zusammenarbeit von Polizei, Feuerwehr und Notfallsanitäterinnen und -sanitätern.

IM NRW / Tim Wegner

Dramatische Einsatzszenarien – wie ein schwerer Autounfall mit Explosion – wurden auf dem Gelände des LAFP in Schloß Holte-Stukenbrock nachgespielt.

Ein Polizist und eine Notfallsanitäterin versuchen gemeinsam, den Kreislauf des Patienten wieder in Gang zu bringen.
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Ein Polizist und eine Notfallsanitäterin versuchen gemeinsam, den Kreislauf des Patienten wieder in Gang zu bringen.

IM NRW / Tim Wegner

Beim Kutschenunfall verschlechtert sich der Zustand einer Person laut Drehbuch. 

Interessiert notiert eine Studentin am Rande des Geschehens jeden Schritt der Übung.
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Interessiert notiert eine Studentin am Rande des Geschehens jeden Schritt der Übung.

IM NRW / Tim Wegner

Lara Richter studiert im dritten Semester an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg.

Je intensiver das Training, desto besser gelingt es im Ernstfall, einen kühlen Kopf zu bewahren.
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Je intensiver das Training, desto besser gelingt es im Ernstfall, einen kühlen Kopf zu bewahren.

IM NRW / Tim Wegner

Ein Amoklauf zählt zu den schlimmsten Einsatzszenarien. 

In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110