Wie zu Zeiten der Sklaverei

Andreas Jänke, Judith Honnen, Martin Mehlhorn
Wie zu Zeiten der Sklaverei
Anwerben und Ausbeuten. Wie Kriminelle die Freizügigkeit der EU-Gesetze für dunkle Geschäfte mit Arbeitsmigranten nutzen. Im Verbund mit Zoll und Kommunen ist das LKA den Tätern auf der Spur.
Jochen Schuster

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein Kernbestandteil der Europäischen Union. Sie eröffnet Unionsbürgerinnen und -bürgern die Möglichkeit, ungeachtet ihres Wohnsitzes in jedem EU-Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie oder er nicht besitzt, unter den gleichen Voraussetzungen eine Beschäftigung aufzunehmen und auszuüben wie ein Angehöriger des Staates. 

Klingt gut. Zu gut. In der Praxis bedienen sich Organisierte Kriminalität und andere Kriminelle dieses Rechts für eine besonders perfide, moderne Variante der Sklaverei: Die Täter nutzen persönliche und wirtschaftliche Zwangslagen von Menschen gezielt aus, um ihre Arbeitskraft auszubeuten. Die Opfer werden zur Ware herabgestuft und befinden sich in der Regel über einen längeren Zeitraum in einer Situation der existenziellen Abhängigkeit. Und sie bleiben häufig traumatisiert zurück. 

„Für die Verhütung und Bekämpfung dieses Kriminalitätsphänomens ist es wichtig, dass alle Gesellschaftsbereiche zusammenarbeiten, dass ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt wird, der Prävention, Strafverfolgung und Opferschutz umfasst“, unterstreicht Judith Honnen, Leiterin des Referats 422 im Innenministerium NRW, das für die Bekämpfung des Menschenhandels und der Arbeitsausbeutung zuständig ist. „Nur gemeinsam können wir auf diesem Gebiet Erfolge erzielen. Die Sensibilisierung und Vernetzung aller Beteiligten sind das Gebot der Stunde.“ 

Gemeinsam heißt in diesem Fall Polizei und Kommunalbehörden, aber auch Zoll, Bezirksregierungen, Steuerfahndung, Staatsanwaltschaften und andere Institutionen. Ein besonderer Push für dieses „Mehr“ an Zusammenarbeit, für den besseren Austausch von Informationen und für die effektivere Kooperation aller Player ging jüngst von einer interdisziplinären Tagung im LKA mit dem Titel „Menschenhandel, Ausbeutung der Arbeitskraft und Mietwucher“ aus. 

„Die Täter werben ihre Opfer, die zumeist aus dem Ausland, zuweilen aber auch aus Deutschland stammen, mit falschen Versprechungen an: Sie stellen einen gut bezahlten Job in Aussicht, der sich am Ende als Falle entpuppt“, erläutert Martin Mehlhorn, Leiter des Dezernats 31 (Kriminalitätsanalyse und -auswertung) im LKA. Dies geschehe zum Beispiel in Form von Arbeitsangeboten über Inserate, Agenturen oder das Internet, aber auch über vermeintlich vertrauensvolle Verwandte, die die Opfer (gegen ein Entgelt) zur Ausbeutung weitervermitteln. Mehlhorn: „Die angeblich gut bezahlten Arbeitsstellen befinden sich zumeist in Subunternehmen von Betrieben der Landwirtschaft, des Baugewerbes oder der Lebensmittelindustrie.“ 

Wenn die Menschen dann in Deutschland bzw. an ihrem Arbeitsplatz ankommen, ist nichts wie versprochen. Im Gegenteil. Große Teile ihres Lohns werden für vermeintliche „Dienstleistungen“ einbehalten, sie müssen für teures Geld in Barracken leben, ihnen werden die Papiere weggenommen, sie werden bedroht, erleben Gewalt. Ein großes Problem: Häufig sind die Übergänge zwischen ungünstigen bzw. schlechten Arbeitsbedingungen und Arbeitsausbeutung fließend. Nicht selten verschärft sich ein eingangs „nur“ ungünstiges Arbeitsverhältnis im Laufe der Zeit derart, dass Arbeitsausbeutung oder sogar Ausbeutung unter Freiheitsberaubung vorliegt. Oft stammen die Menschen zudem aus von starker Armut betroffenen Ländern und nehmen den Umstand, dass sie ausgebeutet werden, nicht als solchen wahr. 

„Bei allen unseren Anstrengungen ist es oberstes Ziel, dieser Form der Ausbeutung ein Ende zu bereiten und die Lebenssituation der Betroffenen zu verbessern, indem wir sie dabei unterstützen, ihre Rechte durchzusetzen. Und natürlich sollen Straftaten beweiskräftig ausermittelt werden, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen“, sagt Andreas Jänke, Dezernatsleiter im LKA. Klar ist: Bei Arbeitsausbeutung handelt es sich um Kontrollkriminalität, das heißt, sie wird kaum angezeigt. Betroffene geben sich so gut wie nie selbst zu erkennen. Die Straftaten werden fast ausschließlich durch Kontrollen entdeckt. Im Vordergrund stehen hier neben polizeilichen Kontrollmaßnahmen auch solche durch Zoll und Kommunen. Gleichzeitig gilt es jedoch auch, potenzielle Opfer von Arbeitsausbeutung zu erkennen. „Dabei ist auf Indikatoren zu achten, die einzeln oder im Gesamten geeignet sind, einen Anfangsverdacht zu begründen“, betont Jänke. Die Liste dieser Indikatoren reicht von fehlenden Reisedokumenten und Ausweisen über Spuren von Misshandlungen und einer sich aufdrängenden „Beschützerperson“ bis zu fehlendem Arbeitsvertrag sowie vorenthaltenem Zugang zu Internet, Smartphone etc. 

„Ermittlungserfolge hängen maßgeblich von der Aussage- und Anzeigebereitschaft der Opfer ab. Ohne deren Mitwirkung ist eine erfolgreiche strafrechtliche Verfolgung der Arbeitsausbeutung nur eingeschränkt möglich“, weiß Martin Mehlhorn. Diese Frauen und Männer sind allerdings häufig derart traumatisiert und so eingeschüchtert, dass sie nicht zu einer Kooperation mit den Behörden fähig sind. 

Bei der Tagung im LKA wurde deutlich, dass neben der Strafverfolgung der Täter und der Stabilisierung der Opfer die Prävention im Herkunftsland eine starke dritte Säule ist. Hier kommen Organisationen wie „Arbeit und Leben“ ins Spiel. Der bereits 1949 gegründete Verein ist mit zwei Rumänisch sprechenden Mitarbeiterinnen in den sozialen Medien unterwegs. „Gerade auf Facebook finden sich unzählige Anwerbe-Annoncen, die ein Rundumsorglos-Paket versprechen, an dem zumeist nichts stimmt“, sagt Pagonis Paganokis, Bereichsleiter Arbeitnehmerberatung. „Menschen, die aus prekären Verhältnissen kommen, sind für reißerische Anwerbung häufig sehr empfänglich. Daher muss unsere Reaktion ähnlich, heißt auf den ersten Blick verständlich sein. Piktogramme oder Emojis helfen da häufig mehr als 1.000 Worte.“

In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110