Hätte er gewusst, dass diese Bankfiliale bereits zweimal gesprengt worden war, hätte sich der Obdachlose vermutlich einen anderen Platz für diese Nacht ausgesucht. Zugedeckt mit der abgetretenen Fußmatte des Vorraums, hatte er sich in eine Nische zum Schlafen gekauert, als drei Männer um 3.09 Uhr den Sprengstoff im Geldautomaten zünden. Der Raum danach – ein einziges Trümmerfeld. Dass der Obdachlose unverletzt bleibt – ein Wunder.
Neheim-Hüsten, die Filiale der Deutschen Bank am 27. Februar dieses Jahres. Bilder der Zerstörung, wie sie die Polizei seit Jahren kennt. Allein 2022 wurden 182 Geldautomaten in Nordrhein-Westfalen gesprengt und ausgeplündert. Die erbeuteten Beträge sind fünf- bis sechsstellig. Die Täter stammen zumeist aus den Niederlanden und begehen ihre Taten hochprofessionell, schnell und effizient. Ihre Flucht ist so rücksichtslos wie gefährlich. Mit PS-starken Autos das dichte Autobahnnetz nutzend, verschwinden sie so schnell, wie sie auftauchen, Richtung Heimat.
„Audi-Bande, so nannten wir sie damals, als 2015 die ersten Geldautomaten überfallen wurden. Dann stellte sich heraus, dass es sich nicht um eine banale Tatserie, sondern um ein Phänomen handelt“, sagt die Kriminalistin Christa Lübbers, die Leiterin der Soko BEGAS (Bekämpfung und Ermittlung von Geldautomaten-Sprengungen). Als sie diesen Job vor zwei Jahren übernahm, da gab es durchaus Warnungen aus dem Kollegenkreis: Mit diesem Thema könne sie nichts gewinnen. Es sei ein ziemlich aussichtsloser Kampf gegen Bandenkriminalität.
Inzwischen ist die Zahl der Sprengungen deutlich gesunken: auf acht im ersten Quartal dieses Jahres gegenüber 47 im Vorjahreszeitraum. Die Soko BEGAS, ein kleines Team, hat sich darauf konzentriert, die Fälle zu analysieren und die Ermittlungen neu zu strukturieren.
Die lokalen Polizeibehörden sind mit ihren Leuten weiterhin als Erste vor Ort, sichern den Tatort. Doch dann kommen die Spezialisten. Das sind Beamtinnen und Beamte aus den 16 Polizeipräsidien mit Kriminaltechnischen Untersuchungsstellen, KTUErmittler, Sprengstoff-Experten, Statiker. Frauen und Männer, die solche Tatorte und die Vorgehensweise der Täter inzwischen nur allzu gut kennen. Neben dem Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen sind auch die sechs großen Behörden in NRW eingebunden: Bielefeld, Dortmund, Essen, Düsseldorf, Münster und Köln. Hier laufen die Fäden zusammen.
Köln, im fünften Stock des Polizeipräsidiums. Hinter einem breiten Fensterband mit Aussicht auf die LANXESS-Arena und den Stadtteil Deutz befindet sich die Leitstelle der Behörde. 1.100 bis 1.200 Notrufe gehen hier Tag für Tag ein. An 13 Arbeitsplätzen, die jeweils mit vier Monitoren ausgestattet sind. „Wenn ein Notruf einläuft, wenn wir die Sprengung eines Geldautomaten gemeldet bekommen, bauen wir in kürzester Zeit den ganzen Apparat rundum auf, die Kommunikation mit allen beteiligten Stellen für die Fahndungsmaßnahmen“, erklärt Ralf Bojack, einer von sechs Dienstgruppenleitern.
„Die Abläufe sind inzwischen eingespielt. Alle Beteiligten sind auf einem Level. Es ist, als ob eine Checkliste abgearbeitet wird“, sagt der 53-jährige Erste Polizeihauptkommissar Bojack.
Ein paar Etagen tiefer befindet sich der Arbeitsplatz von Frank Trojan. Der 59-jährige Kriminalhauptkommissar kennt die Methoden der Geldautomaten-Sprenger wie kaum ein anderer. Trojan ist in Köln für die KTU zuständig und gehört zu den Ersten, die einen Tatort begehen. Er weiß, wie wichtig es ist, dabei extrem vorsichtig zu agieren. Stimmt die Statik des Gebäudes noch oder ist es durch die Detonation nicht mehr sicher? Wie sieht es mit dem Schutt vor dem Geldautomaten aus, könnte sich darunter noch Sprengstoff befinden.
„Die Tatorte sehen oft verheerend aus. Seit längerer Zeit schon nutzen die Täter nicht mehr Gas für die Sprengung, sondern feste Sprengstoffe. Kürzlich hat es einen Monitor bei der Explosion 46 Meter herausgeschleudert. Weit von der Filiale entfernt lag der auf dem Gehweg“, berichtet Trojan.
Die Soko BEGAS intensivierte die Kontakte zur niederländischen Polizei und setzte eigens Arbeitskreise sowie ein festes System von Ansprechpersonen ein. Außerdem arbeitete man intensiv mit den Banken zusammen, ermittelte unter den rund 11.000 Geldautomaten in NRW die besonders gefährdeten und beriet die Institute, wie sie sich besser schützen können. Das reicht vom konsequenten Nachtverschluss einzelner Filialen bis hin zum Präparieren der Automaten mit Raubstopptinte. Die sorgt dafür, dass bei der Explosion Farbe auf die Banknoten gesprüht wird und diese dauerhaft als Raubgut erkennbar sind.
Kaum ein Delikt wird so häufig auf Fotos oder Videos festgehalten wie eine Geldautomaten-Sprengung. Fast immer gibt es Anwohnerinnen und Anwohner, die nachts durch die Detonation aufgeschreckt werden und zum Handy greifen. „Kürzlich rannte sogar ein Anwohner aus seinem Haus und stellte sich mit erhobenen Armen vor das Auto der Täter, um sie an der Flucht zu hindern. Er hatte Glück, dass sie ihn nur zur Seite geschoben haben. So etwas ist lebensgefährlich!“, sagt Spurensicherer Trojan.
Das weiß auch die Kölner Ermittlerin Christina B. (Name geändert) nur allzu gut. Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen des KK 63 kam sie zuletzt zu einem Tatort, der eigentlich sicher zu sein schien. Gerade noch rechtzeitig erkannte sie, dass in dem Geldschlitz eines zweiten Automaten eine neue Art von Sprengstoff-Pack steckte, das nicht gezündet worden war. „Da ist noch was!“, warnte sie und rief eilig die Experten vom LKA zur Hilfe.
Einen der ganz großen Ermittlungserfolge in Sachen GeldautomatenSprengung verbuchte die EK Romeo, benannt nach der von den Tätern bevorzugten Automarke. Nach Hinweisen des Bundeskriminalamtes verfolgte das Team monatelang eine Gruppe von sechs Rumänen, die, versteckt in einem bürgerlichen Wohnviertel in Niederkassel, zum Teil europaweit agierten. Stolz erzählt der Kölner Ermittler Bernd K. (39) davon, wie sie die Puzzleteile aus Fahrzeug-Diebstählen, Geldautomaten-Sprengungen und Einbrüchen zusammenfügten, bis nach Monaten der Überwachung ein Spezialeinsatzkommando zugreifen konnte. Einzelne Mitglieder der Bande standen nun in Düsseldorf vor Gericht und erhielten Strafen von bis zu zehn Jahren Haft. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig, weil es angefochten wird.
Bernd K.: „Manchmal ist es ein glücklicher Zufall, der für den entscheidenden Erfolg sorgt. In diesem Fall waren die Täter mit ihren Autos in Radarfallen geraten!“ Ein Fall, der unter Kriminalisten europaweit für Aufsehen sorgte. Bernd K. wurde sogar zur Gendarmerie nach Paris eingeladen, um über die Details der Fahndung zu berichten.
Polizeipräsidium Köln
Erste Erfolge sind sichtbar