Spezialeinheiten - Wenn es gefährlich wird, rücken sie aus

Zwei SEK-Beamte seilen sich zu einem Fenster ab. Sie tragen Uniform und Helme. Sie schauen fokussiert durch das Fenster in den Raum und leuchten hinein.
Spezialeinheiten - Wenn es gefährlich wird, rücken sie aus
Die Polizisten der Spezialeinheiten (SE) sind weder Rambos noch Superhelden. Sie wollen einfach ihren Job professionell erledigen. Und dabei anonym bleiben. Denn die Gegner sind oft Terroristen, Amokläufer oder stark bewaffnete Kriminelle aus dem organisierten Verbrechen.
Streife-Redaktion

Vor 50 Jahren hat die Innenministerkonferenz von Bund und Ländern die Einrichtung von SE beschlossen. Seitdem haben sich die polizeiliche Bewaffnung, das Training, die Ausrüstung, die Einsatzkonzepte und die taktische Schulung gewaltig verbessert. Trotzdem sind die Einsatzlagen gefährlich und herausfordernd. Denn nicht alles kann man vorhersehen.

Fit sein, Körper und Geist schulen, täglich – das ist die Aufgabe. Denn jede Minute kann eine Lage entstehen, in der die SE gefordert sind. Wie macht man das? Wach bleiben in ständiger Bereitschaft! Die Spezialeinheiten in Düsseldorf trainieren in einem ehemaligen Gewerbekomplex an der Peripherie der Landeshauptstadt. Peter (die aktiven Angehörigen der Spezialeinheiten sind in diesem Text aus Sicherheitsgründen mit einem fingierten Decknamen versehen) hat ein paar typische Einsatz-Szenarien vorbereitet. Der 51-Jährige ist bei den Düsseldorfer SE für Fortbildung zuständig.

Es beginnt mit einer Suizidlage. Eine Polizistin und ein Polizist stehen an einem Fenster und wollen einen Mann beruhigen, damit er sich nicht vom Dach in die Tiefe stürzt. Ein Sicherungsschütze des Spezialeinsatzkommandos (SEK hat) die Kollegin und den Kollegen aus der Verhandlungsgruppe (VG) im Blick, um sofort eingreifen zu können. Denn Menschen in psychischen Ausnahmesituationen sind schwer ausrechenbar.

Welche Mittel das Mobile Einsatzkommando (MEK) nutzt, zeigt ein anderes Setting. Ein geplanter Waffendeal wird beobachtet. Ein MEK-Beamter hält sich unauffällig in der Nähe des geparkten verdächtigen Wagens auf. Plötzlich taucht ein Lieferwagen auf, aus dem bewaffnete MEK-Beamte springen und die überraschten Gangster festnehmen. Eine weitere Szene simuliert, wie bei einem Ampelstopp ein Mercedes mit Drogenhändlern plötzlich von drei Fahrzeugen eingekeilt wird. Es geht so schnell, dass die Ganoven nicht mehr reagieren können.

Wie Klettertrupps in Häuser eindringen, führt das SEK vor. Notfalls kopfüber wie eine Fledermaus. Man ist beim SEK breit aufgestellt und verfügt über ausgebildete Rettungssanitäter. Sie können schnell Schusswunden versorgen, wenn es drauf ankommt.

Besonders bedrohlich wirkt eine Sequenz, die an die Explosion von Ratingen vor einem Jahr erinnert. Dicke gelbe Schwaden verhüllen einen Hausflur, in dem schemenhaft ein Mann mit einem Messer herumfuchtelt. Zwei SEK-Einsatzkräfte zielen mit Laserstrahlen auf den Angreifer. Kollegen rücken von der anderen Seite heran, mit Atemschutzgeräten und Sauerstoffflaschen ausgerüstet und schwer bewaffnet.

Nach den simulierten Einsatzszenarien folgen die Erklärungen: Uli, Kommandoführer beim SEK in Essen, war als junger Polizist in einer Bereitschaftspolizei-Hundertschaft fasziniert von den Fähigkeiten der SE. Vor allem die Fitness der selbstbewussten SEK-Beamten beeindruckte ihn. Er bewarb sich für das Spezialeinsatzkommando und hatte Erfolg. 50 Prozent der Bewerber fallen in der Einführungsfortbildung durch. „

Mir wurde dann schnell klar, dass es bei Weitem nicht nur auf die Physis ankommt“, stellt der 47-Jährige im Rückblick fest. „Sportlich zu sein, ist allerdings eine Grundvoraussetzung für den Job.“ Schon die schusshemmende Weste mit Stichschutz wiegt heute etwa so viel wie ein Kleinkind, hinzu kommen die Waffen und der schwere Helm. Eine gute Rücken- und Nackenmuskulatur sind unverzichtbar. Insgesamt schleppt man oft mehr als 30 Kilo mit sich herum. 

„Wir tragen eine große Verantwortung. Nach uns kommt niemand mehr. Wir müssen die Lage beenden.“ Fehler könnten lebensgefährlich sein. „Deshalb braucht es eingespielte Abläufe, damit wir in Extremsituationen wissen, was wir zu tun haben“, so der gebürtige Münsteraner, der längst im Ruhrgebiet heimisch geworden ist.

Auf geschicktes taktisches Verhalten und das Zusammenwirken mit den anderen Teileinheiten komme es an. „Jede SEK-Einheit besteht aus Individualisten mit unterschiedlichen Spezialisierungen“, erläutert der Erste Polizeihauptkommissar. Es gebe viele Spezialisierungen im SEK für die unterschiedlichen Einsatzlagen.

Natürlich helfe die Erfahrung aus vielen Einsätzen. „Bei der Nachbereitung analysieren wir, was beim nächsten Mal noch runder laufen könnte. Die meisten von uns werden mit der Zeit stärker“, sagt Uli. „Zumindest solange der Körper mitmacht.“

Die Familie bildet einen wichtigen Rückhalt. Natürlich sorgen sich seine Frau und die beiden Kinder manchmal. „Aber sie vertrauen darauf, dass wir das schon hinkriegen.“ Noch sind die SEKs eine Männerdomäne. Das liegt vor allem an den physischen Anforderungen. Doch man verändert sich, um modern und leistungsfähig zu bleiben.

Selbst beim SEK geht es nicht jeden Tag um Kopf und Kragen. Bei verschiedenen Einsätzen wird man von der Polizeiführung ausschließlich als Ratgeber präventiv hinzugezogen, zum Beispiel bei großen politischen oder sportlichen Ereignissen. „Aber wir sind stets darauf gefasst, dass etwas passieren könnte.“

Die Spezialeinheiten der Polizei NRW bestehen aus vier Teileinheiten. Besonders eng kooperiert das SEK mit dem MEK, für das Phil seit Kurzem arbeitet. Im März wurde ihm die Schwinge, das Abzeichen der Spezialeinheiten, in einer feierlichen Zeremonie in Selm überreicht. „Bei der Kripo habe ich mich bereits für Observationen interessiert“, sagt er. „Das kann ich jetzt beim Düsseldorfer MEK vertiefen. Mich reizen die taktischen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben.

“Mit 35 Jahren sei er in der Fortbildung einer der Ältesten gewesen, stellt der Kriminalhauptkommissar fest. „Alles zu geben, ist wichtig“, meint er. Man dürfe mit der Tarnung auf keinen Fall auffliegen. „Meistens bemerken uns die Kriminellen erst, wenn ihre Hände in Handschellen auf dem Rücken liegen.“ Man müsse zudem sehr gut Auto fahren können, um notfalls mit hoher Geschwindigkeit den Tätern unauffällig hinterherjagen zu können.

Die Spezialeinheiten sind darauf angewiesen, dass bei den SE-Einsätzen Audio, Video, Ortung, Öffnungstechniken, Sensorik, Computer und Elektrik funktionieren. Dafür sorgt die Technische Einsatzgruppe (TEG). Mark ist gelernter Informationstechnischer Assistent. Seit 2015 ist er bei der TEG in Dortmund. „Mein früherer Beruf, in dem ich mich mit dem Betrieb von Computersystemen beschäftigt habe, war eine gute Grundlage“, sagt der 39 Jahre alte Polizeihauptkommissar.

Fortschrittliche Technik mit verdeckten operativen Einsätzen zu verbinden, ist anspruchsvoll. „Wir müssen mit unserem Equipment immer besser als die Täter sein“, fordert der TEG-Einsatzleiter. Alles sei inzwischen netzwerkbasiert. „Die Kollegen sind daran gewöhnt, laufend mit Infos versorgt zu werden. Doch Technik streikt schon mal. Dann müssen wir unter Hochdruck ganz schnell den Fehler finden.“

Lösungen suchen auch Polizeihauptkommissarin Lisa und ihre Verhandlungsgruppe (VG) am Polizeipräsidium Münster. Die VG, die vierte Teileinheit, ist auf die Gesprächsführung mit Straftätern und die polizeiliche Betreuung von Menschen in psychischen Ausnahmesituationen spezialisiert. „Am häufigsten haben wir es mit Suizidgefährdeten zu tun, die wir stabilisieren wollen“, erzählt die 58-jährige Stellvertretende Leiterin der Verhandlungsgruppe. „Aber natürlich werden wir auch bei Geiselnahmen, Amokläufen oder Entführungen eingesetzt.“

Kommunikationstechniken und Verhandlungstaktik müssten regelmäßig trainiert werden. Man könne nicht einfach drauflos reden. „Wir sind an die Auftragslage gebunden und unterstützen mit unseren Gesprächen die von der Polizeiführung festgelegten Ziele.“ Der Kontakt erfolgt in der Regel über Telefon oder soziale Netzwerke. Man strebt aber einen direkten Draht an: „Wenn wir sie sehen, können wir sie besser einschätzen.“ Es sei sehr befriedigend, die Situation mit Worten zu entschärfen. Das gelingt aber leider nicht immer. „Grundsätzlich sind Verhandlungen jedoch eine Chance und das mildeste Mittel“, resümiert Lisa.

Die digitale Transformation stellt die Spezialeinheiten jetzt vor enorme Herausforderungen. Die Kriminalitätsformen verändern sich. Über Jahrzehnte bei der Polizei erprobte Prozesse und Strukturen stoßen an Grenzen. Schon jetzt haben sich Operationsschwerpunkte verlagert. Klassische Banküberfälle und spektakuläre Geiselnahmen sind sehr viel seltener geworden.

Die Gangster stürzen sich auf neuestes technologisches Know-how und nutzen den Cyberraum für ihre Straftaten. „Die Künstliche Intelligenz spielt für uns eine zentrale Rolle“, sagt der nordrhein-westfälische Polizeiinspekteur Michael Schemke (siehe auch das Interview auf den Seiten 16 und 17). Spuren würden von professionellen Verbrechern im Netz verwischt. Auf die Aufrüstung der anderen Seite habe man aber schnell reagiert.

KI werde überall zur Anwendung kommen, betont Schemke. Immer größere Datenmengen müssten unter Beachtung des Datenschutzes verarbeitet werden. „Wir wollen und müssen besser und versierter sein als unser Gegenüber“, konstatiert er.

Das gelte gerade auch für den Einsatz der Spezialeinheiten. Deren technische Möglichkeiten hätten sich enorm entwickelt. Sensoren oder Roboter würden längst zur Überwachung eingesetzt. „Je besser wir uns technisch auf den Einsatz vorbereiten, desto größer sind unsere Erfolgschancen“, glaubt der 63 Jahre alte gebürtige Krefelder.

Die weltumspannende Mobilität und Konnektivität hat überdies zu globalisierter Bandenkriminalität geführt. „Die Kooperation über Grenzen hinweg gehört immer mehr zum Alltag“, so der Polizeiinspekteur.

Um den Weg zu ermessen, den die nordrhein-westfälischen Spezialeinheiten zurückgelegt haben, lohnt es sich, die ehemaligen SE-Beamten Walter Schmitz, Werner Ludwig und Thomas Dammers zu treffen. Schmitz hat vor einem halben Jahrhundert das SEK Köln mit aufgebaut. Bis 1987 war er zunächst Gruppen- und später Kommandoführer in Köln. Dann wechselte er in die nordrhein-westfälische SE-Koordinierungsstelle nach Düsseldorf. Als sich 1988 die legendäre Geiselnahme von Gladbeck ereignete, saß er im Stab, der die Lage managen sollte. „Es gab interne Reibereien, verpasste Chancen und überforderte Polizeiführer“, resümiert der heute 77-Jährige.

In der Aufbauphase habe man viel probiert und improvisiert. „Das ist mit heute überhaupt nicht zu vergleichen.“ Er schaut sich auf seinem Notebook ein paar Fotos von früher an. „Aus Sicht von 2024 sieht die alte Ausrüstung ein bisschen nach Kindergarten aus“, entfährt es Walter Schmitz. Natürlich sei unter ganz anderen Bedingungen häufig Großartiges geleistet worden. „Standardisierung und Controlling waren noch sehr unterentwickelt.“ Überdies seien die umständlichen Entscheidungsprozesse jener Zeit vom Befehlsprinzip und unklaren Zuständigkeiten bestimmt gewesen.

Die Unzulänglichkeiten erlebte auch der damals noch ganz frische MEK-Beamte Werner Ludwig hautnah beim Gladbecker Geiseldrama. Er hatte 1987 im Düsseldorfer MEK begonnen. „Wir waren längst nicht so austrainiert wie die Kollegen jetzt“, bekennt der 65-Jährige, der 2022 in den Ruhestand trat. „MEK und SEK hatten anfangs nur wenige Berührungspunkte. Wir kamen von der Kripo und die anderen von der Schupo.“

Am dritten Tag des Katz-und-MausSpiels, das in Gladbeck seinen Ausgangspunkt genommen hatte, erhielt das Düsseldorfer MEK den Auftrag, den Wagen der Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski nicht aus den Augen zu verlieren. „Auf einmal war ich im Stop-and-Go-Verkehr in der Nähe des Bahnhofs Wuppertal-Elberfeld direkt hinter dem Zielfahrzeug“, berichtet Ludwig. „Ich legte die Pistole auf meinen Schoß und stellte den Funk leise. Mir war mulmig zumute.“

Zwei Minuten war er unter Hochspannung. Dann war es vorbei. Andere übernahmen. Etwas später kam es zum Showdown auf der A3 in Richtung Frankfurt vor der Anschlussstelle Bad Honnef/Linz. Im Schusswechsel zwischen den Schwerkriminellen und der Polizei fielen 62 Schüsse. Die 18-jährige Geisel Silke Bischoff starb durch ein Projektil aus Rösners Waffe. „Seit Gladbeck haben wir Gott sei Dank keine Geisel mehr verloren“, konstatiert Walter Schmitz. Die danach ausgegebene Direktive, die Lage stationär zu halten, habe sich sehr bewährt.

Das weiß Thomas Dammers aus eigener Erfahrung. Im Dezember 1999 drang ein mehrfach vorbestrafter Verbrecher mit drei Geiseln in die Landeszentralbankfiliale Aachen ein und erpresste 1,5 Millionen Mark. Als Leiter der Führungsstelle der Spezialeinheiten in Köln fuhr Dammers sofort dorthin. „Wir entschieden, den Täter unter keinen Umständen mit einem Fluchtwagen herauszulassen.“ Das Risiko war am dritten Tag nicht mehr kalkulierbar. „Die Einsatzleitung erteilte die Genehmigung für den finalen Rettungsschuss.“ Der Geiselnehmer starb und alle Geiseln überlebten.

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In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110